Vor 40 Jahren: “Wir leben in der Bundesrepublik in einer multikulturellen Gesellschaft”
Ende der 70er Jahre wurde kaum von Ausländern gesprochen, sondern überwiegend vom „Ausländerproblem“. Damit wurden zugewanderte Menschen von vornherein als „Problem“ angesehen. Das hat ihre Ablehnung verstärkt.
Damals überlegte ich als Ausländerreferent der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), wie Ausländer in einen anderen sprachlichen Rahmen gestellt werden können. Da andere Kulturen in der Regel als etwas Interessantes angesehen werden, suchte ich nach Möglichkeiten, den Begriff der „Kultur“ mit Ausländern in Verbindung zu bringen. Als Vorsitzender des Ökumenischen Vorbereitungsausschusses für den Tag des ausländischen Mitbürgers schlug ich daher für den Ausländersonntag am 28. September 1980 das Motto vor: „Verschiedene Kulturen. Gleiche Rechte. Für eine gemeinsame Zukunft.“ Aber die Thematik der „Kulturen“ wurde von kaum jemand verstanden, denn in den zugewanderten Menschen wurden ausländische Arbeitnehmer gesehen – Kultur hatte damit nichts zu tun.
„Wir leben in der Bundesrepublik in einer multikulturellen Gesellschaft“
Zur Vorbereitung auf den Ausländersonntag entwickelte ich die Thesen „Die Bundesrepublik ist zu einer multikulturellen Gesellschaft geworden“. Darin wird darauf hingewiesen, dass die deutsche Bevölkerung aus kulturell unterschiedlichen Volksstämmen zusammengesetzt ist. Es gibt kulturelle und sprachliche Minderheiten wie Dänen, Friesen und Sorben. Sinti und Juden haben ihr eigenes kulturelles und religiöses Erbe gepflegt. Im 16. Jahrhundert gab es in bedeutenden Städten einen Aufschwung durch Belgier, Holländer und Franzosen, die aus religiösen Gründen vertrieben wurden und Asyl fanden. Polen, Italiener, Russen, Holländer, Belgier und Slowenen wanderten ins Ruhrgebiet ein. Nach dem 2. Weltkrieg kamen Flüchtlinge. Für 30 verschiedene Sprachgruppen gab es Ende der 70er Jahre bereits eigene Kirchengemeinden mit Hunderten von Pfarrern aus verschiedensten Ländern der Welt. Die daraus entstehenden Aufgaben wurden in neun Thesen aufgezeigt. (epd-Dokumentation 48/80, „Wir leben in der Bundesrepublik in einer multikulturellen Gesellschaft“, Frankfurt/M., 27. Oktober 1980, Seite 47 ff.)
Über diese Thesen wurde im Ökumenischen Vorbereitungsausschuss für die Woche der ausländischen Mitbürger heftig und lange gestritten. Am Ende wurden sie von einer Mehrheit abgelehnt. Als Vorsitzender stellte ich daraufhin die Frage, ob Bedenken bestünden, wenn wir das Papier als »Thesen zum Gespräch« weiter erörtern. Nach den ermüdenden Auseinandersetzungen gab es dazu keinen Widerspruch.
Für den 24. September 1980 luden wir zu einem Symposion nach Frankfurt am Main ein, das wir unter das Motto „Verschiedene Kulturen – Gleiche Rechte“ stellten. Aus verschiedenen europäischen Ländern wurden die Erfahrungen und Einstellungen zum Miteinander von Menschen unterschiedlicher Kultur dargestellt. Und dann wurden die „Thesen zum Gespräch“ vorgetragen, die mit der ersten These begannen: “Wir leben in der Bundesrepublik in einer multikulturellen Gesellschaft.“
In den Abendnachrichten der ARD und wohl auch des ZDF wurde bei den ersten Meldungen darüber berichtet, dass die Kirchen erklärt haben, dass die Bundesrepublik zu einer multikulturellen Gesellschaft geworden ist. Zur gleichen Zeit tagte die Herbstversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda und mein Kollege Rechtsanwalt Herbert Becher vom Kommissariat der Deutschen Bischöfe, der Mitglied unseres Ausschusses war, sollte noch in der Nacht herausbekommen, wie es zu dieser Meldung gekommen ist. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat sich darüber ebenfalls aufgeregt und Bischof Heinz Joachim Held damit beauftragt, deswegen mit mir zu sprechen. Ich hatte ihm als meinem Chef bereits vorab über die zu erwartenden kritischen Reaktionen informiert und er sagte mir nun, dass mir der Rat verbietet, weiterhin von einer multikulturellen Gesellschaft zu sprechen. Ich konnte ihm antworten, dass ich damit gut leben kann, da dies nun andere tun.
Damals habe ich nicht geahnt, welche lange und heftige Debatte durch diesen Begriff ausgelöst wird. Das hing auch damit zusammen, dass der Begriff vielfach so missverstanden wurde, dass damit ein unverbundenes Nebeneinander verschiedener Kulturen angestrebt werde. Mir ging es um ein gutes Miteinander von Menschen unterschiedlicher Kultur und nicht um ein Nebeneinander. Um diese Missverständnisse zu vermeiden habe ich später den Begriff des interkulturellen Zusammenlebens bevorzugt.
Im europäischen Rahmen konnte ich die Debatte als Geschäftsführer des Ausschusses der Kirchen für Ausländerfragen in Europa weiterführen. Neben der bereits am 27. Oktober 1980 veröffentlichten epd-Dokumentation zur deutschen Tagung veröffentlichte ich im Jahr 1983 die Publikation „Multikulturelles Zusammenleben. Theologische Erfahrungen“ und 1989 die Broschüre „Kulturelle Vielfalt statt nationaler Einfalt. Eine Strategie gegen Nationalismus und Rassismus“, die in einer europäischen Arbeitsgruppe erstellt wurde.
Das Heidelberger Manifest
Zum 17. Juni 1981 haben 15 Hochschulprofessoren das „Heidelberger Manifest“ verfasst, in dem es in der Originalfassung unter anderem hieß: „Mit großer Sorge beobachten wir die Unterwanderung des deutschen Volkes durch Zuzug von vielen Millionen von Ausländern und ihren Familien, die Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums… Die Integration großer Massen nichtdeutscher Ausländer ist daher bei gleichzeitiger Erhaltung unseres Volkes nicht möglich und führt zu den bekannten ethnischen Katastrophen multikultureller Gesellschaften.“ Das hat die kontroverse öffentliche Diskussion verstärkt, die nicht nur von rechtsextremen Gruppen aufgegriffen wurde.
Im politischen Bereich kam es darüber zu einem jahrelangen Streit. CDU-Generalsekretär Heiner Geißler oder Claudia Roth bei den Grünen griffen den Begriff positiv auf. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte öffentlichkeitswirksam am 20. November 2004 auf dem CSU-Parteitag in München: „Die multikulturelle Gesellschaft ist grandios gescheitert.“ Allerdings hat sie diesen Satz wohl nicht mehr wiederholt. Mit ihrer Zeit als Kanzlerin verbindet sich eher der Satz „Wir schaffen das“.
Nach 40 Jahren
Heute wird kaum noch bestritten, dass wir in einem Land mit kultureller Vielfalt leben. Dazu gibt es inzwischen Programme der Bundesregierung. 40 Jahre nach dem Beginn des Ausländersonntags wurde daraus die Interkulturelle Woche und das Motto im Jahr 2015 hieß: „Vielfalt. Das Beste gegen Einfalt“.
Interkulturelles Miteinander ist zum gesellschaftlichen und staatlichen Ziel im Zusammenleben mit Zugewanderten geworden. Daran gibt es Kritik von politischen Parteien wie der AfD und NPD sowie wenigen anderen. Der Begriff „multikulturelle Gesellschaft“ ist weiterhin eine zutreffende Beschreibung der Realität in Deutschland. Die Stadt Frankfurt am Main verwendet die Begrifflichkeit in der Bezeichnung des „Amtes für Multikulturelle Angelegenheiten“. Es wird bewusst darauf hingewiesen, dass der Begriff in Frankfurt bereits im Jahr 1980 – vor nun 40 Jahren – verwendet wurde.
Verbreitet hat sich vor allem der Begriff der Interkulturalität, der das Ziel von Kontakten beim Miteinander umschreibt. Deswegen wird auch von der Interkulturellen Woche gesprochen, der interkulturellen Pädagogik oder Theologie. Viele Lebensbereiche und wissenschaftliche Fächer werden inzwischen mit dem Begriff „interkulturell“ verbunden. Der Begriff hat sich erfolgreich durchgesetzt.
Wie geht es weiter?
Der Begriff „Ausländerproblem“ wird heute nur noch selten verwendet. Das Bild von zugewanderten Menschen verbindet sich eher mit Vielfalt. Und das ist erfreulich.
Dafür steht ein anderer Begriff im Vordergrund, der Ende der siebziger Jahre kaum verwendet wurde: Rassismus. Jedes Jahr gibt es tausende rassistisch motivierte Angriffe insbesondere auf Juden, Muslime, Flüchtlinge, Schwarze Menschen, Sinti und Roma. Das ist nun nicht mehr das „Problem“ der zugewanderten Menschen, sondern der einheimischen Bevölkerung. Deswegen ist es die Aufgabe unserer Gesellschaft, in den kommenden Jahrzehnten Rassismus und Gewalt zu überwinden – denn Rassismus tötet, wie Kassel, Halle und Hanau gezeigt haben.
Mit einer Vielfalt von Aktivitäten ist zu versuchen, Rassismus und Gewalt zurückzudrängen. Wichtig ist ein „Wandel durch Kontakte“. Untersuchungen zeigen, dass Rassismus dort reduziert werden kann, wo es zu Begegnungen zwischen den Menschen kommt. Interkulturelles Miteinander ist weiter zu entwickeln und hierfür spielen Institutionen eine wichtige Rolle: Schulen, Polizei, Bundeswehr, Religionsgemeinschaften, Kommunen oder kulturelle Einrichtungen.
Von großer Bedeutung sind dafür Vorbilder – deswegen versucht die Stiftung gegen Rassismus mit „Engagiert gegen Rassismus“ möglichst viele anerkannte Menschen zu gewinnen, die Gesicht zeigen für die Menschenwürde und gegen Rassismus. In den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen soll es zu einer Selbstverständlichkeit werden, menschenfreundlich zu sein und gegen Rassismus Stellung zu beziehen.
Dabei haben Medien eine große Bedeutung, die immer noch die Neigung haben, aggressives Verhalten umfassender darzustellen: Denn das ist interessanter für die Leser und Zuschauer. Einschaltquoten und Verkaufszahlen von Medien erhöhen sich, wenn etwas Schreckliches dargestellt wird. Aber dies hat zur Folge, dass Menschen dadurch der Eindruck vermittelt wird, dass Aggressionen verbreitet und gesellschaftlich akzeptiert sind. Mehr sollte über das großartige und breite Engagement gegen Rassismus und für ein gutes Miteinander berichtet werden.
Tatsächlich ist nicht die multikulturelle Gesellschaft gescheitert. Sie ist zur Normalität geworden und prägt als interkulturelles Miteinander das Zusammenleben.
Gescheitert sind andere: Wer kennt heue noch die rechtsextreme DVU, die Deutsche Volksunion, die in den 70er Jahren viel von sich reden machte und bei Wahlen erfolgreich war. Sie ist 2011 in die NPD übergegangen. Wer kennt heute noch die 1983 gegründeten Republikaner, die in verschiedene Parlamente gewählt wurden und seit 2017 zu keiner überregionalen Wahl angetreten sind. Wer spricht heute noch von der NPD, die jahrelang erfolgreich war. Wer interessiert sich noch für Pegida, die Patrioten gegen die Islamisierung des Abendlandes – auf ihrer letzten Demonstration zu Hitlers Geburtstag nahmen wenige Dutzend Teilnehmende teil. Aktuelle Entwicklungen zeigen, dass es der AfD möglicherweise ähnlich ergeht.
Wenn von einem „grandiosen Scheitern“ gesprochen wird, dann betrifft das eher diejenigen, die sich gegen eine multikulturelle Gesellschaft gestellt haben.
Die multikulturelle Gesellschaft ist eine Realität und das Ziel eines interkulturellen und vielfältigen Miteinanders wird in Staat und Gesellschaft nach 40 Jahren breit anerkannt. Das insgesamt gute Zusammenleben in Deutschland ist davon geprägt.
Nur noch Menschen von gestern streiten über die multikulturelle Gesellschaft. Der Begriff ist inzwischen zu einer Institution geworden – wie zum Beispiel beim „Amt für Multikulturelles der Stadt Frankfurt“ oder den vielen interkulturellen Einrichtungen. Wichtig ist nun das Engagement für die Menschenwürde, für eine menschenfreundliche Gesellschaft, gegen Rassismus und Gewalt – hier gibt es ein großes und stabiles Engagement. Hoffentlich kann auch dieser Einsatz nach weiteren 40 Jahren als erfolgreich bezeichnet werden.
Darmstadt, 23. September 2020