Sonntag, 3. Juni 2018

 

„Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen“ Offenbarung 21,4

Predigt von Jürgen Micksch am 3. Juni 2018 in der St. Johannes-Kirche in Bremen anlässlich der Einweihung der Arster Gedenkstätte für geflohene Menschen, die auf dem Weg nach Europa ihr Leben verloren haben.

 

Liebe Gemeinde,

wenn künftige Generationen auf den Anfang unseres Jahrhunderts zurückblicken, dann werden sie von Flüchtlingen sprechen, die vom reichen Europa zurückgewiesen wurden. Viele Tausende starben dabei im Mittelmeer: Männer, Frauen und Kinder. Und sie starben auf dem Weg zu einem würdigen Leben.

Kinder werden das nicht verstehen und danach fragen, warum das damals zugelassen wurde? Warum Europa als Festung gegen hilfesuchende Menschen ausgebaut wurde? Und welches Menschenbild die Europäer hatten?

Diese Fragen werden schwer zu beantworten sein.  Man wird die Kinder darauf hinweisen, dass sich auch viele für diese Flüchtlinge eingesetzt haben: Dass der Papst ein Zeichen gegen das Sterben gesetzt hat; dass es Rettungsschiffe gab und Trauerfeiern und dass in Bremen das erste Denkmal für die Toten in Deutschland errichtet worden ist. Damit können Tote nicht lebendig gemacht werden. Aber sie werden nicht vergessen. Und dafür ist dieser Gemeinde und den Initiatorinnen und Initiatoren zu danken.

Hoffentlich kann dann den Kindern erzählt werden, dass später auch an anderen Orten solche Denkmale errichtet wurden. Dass es immer mehr wurden, ähnlich wie die vielen Denkmale, die für die sinnlos Getöteten in den Weltkriegen errichtet wurden. Und vielleicht wird dann gesagt, dass diese vielen Denkmale zu einem Umdenken in der Bevölkerung und Politik beigetragen haben.

Flüchtlinge werden im 21. Jahrhundert nicht weniger werden. Wir leben im Jahrhundert der Flüchtlinge. Ursachen für die Flucht von Menschen nehmen eher zu:

  • Seit Jahren gibt es Kriege, die immer mehr Menschen zur Flucht zwingen.
  • Durch die von Menschen ausgelöste Klimaerwärmung werden Inseln und Länder überflutet, Wüsten breiten sich aus und durch Unwetter und Überschwemmungen werden Lebensgrundlagen zerstört.
  • Trotz einem unvorstellbaren Reichtum von wenigen sind Hunger und Verarmung weiterhin erschreckend und zwingen Menschen zur Flucht.
  • Die biologische Vielfalt wird verringert durch Monokulturen und Pestizide, durch die Existenzgrundlagen für Pflanzen, Tiere und Menschen zerstört werden.
  • Die Überfischung der Meere durch schwimmende Fischfabriken raubt Fischern an den Küsten ihre Lebensgrundlage und zwingt sie zu fliehen.
  • Hass zwischen ethnischen und religiösen Gruppen macht vielerorts ein Miteinander unmöglich und führt zur Flucht.

Mit all dem ist unendlich viel Elend verbunden. Weltweit sind über 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Solche Zahlen konnte sich vor 2.000 Jahren niemand vorstellen. Aber die Not von Menschen war der damaligen Zeit bewusst. Der Verfasser der Offenbarung des Johannes macht Menschen Mut. Er sagt im 17. Kapitel: „Sie werden nie mehr Hunger und Durst haben; auch die Sonne oder irgendeine andere Hitze wird ihnen nicht mehr schaden“. Bei diesen Worten sieht man förmlich die Flüchtenden, die sich durch die Wüsten auf den Weg machen, Hunger und Durst erleiden, von Hitze gequält werden und die Europa im Auge haben, wo sie ein würdiges Leben suchen. Und der Prophet schreibt dann im 21. Kapitel den rettenden Satz, der auf dem Denkmal steht: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.“

Gott hat Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen und will ihnen helfen. Diese Zusage steht im Gegensatz zur Realität auf Erden. Doch als Ebenbild Gottes haben sich Menschen daran zu beteiligen, Tränen abzuwischen. Das heute der Öffentlichkeit übergebene Denkmal will dafür ein Beitrag sein. Hoffen wir, dass es ein Anstoß zu vielen Denkmalen ist, die Schritt für Schritt zu einem Umdenken beitragen.

Unsere Erde hat Platz für alle Flüchtlinge. Ihnen eine Zukunft und Perspektive zu schaffen ist eine vorrangige Aufgabe für jeden Einzelnen und für politisch Verantwortliche. Die europäische Politik der Flüchtlings-Abwehr ist verantwortungslos. Ein Perspektivenwechsel ist für die Jahrhundertaufgabe erforderlich, Menschen auf der Flucht eine Zukunft zu geben.

Es muss aufhören, dass Europa die Grenzen schützt und nicht die Flüchtlinge.

Wir dürfen nicht hinnehmen, dass nun sogar diejenigen kriminalisiert werden, die Flüchtlingen helfen und ihnen die Tränen abwischen. Darunter  sind viele junge Menschen, die sich auf einen gefährlichen Weg machen und mit Booten unterwegs sind um in Seenot geratene Menschen zu retten. Seenotrettung ist ein Menschenrecht. Wer dies verhindert begeht ein Verbrechen. Kriminell sind diejenigen, die Rettung verhindern und nicht die Retter von Flüchtlingen.

Wir dürfen nicht hinnehmen, dass Flüchtlinge, die den Weg nach Europa geschafft haben, hier mit rassistischen Parolen empfangen werden. Auch darauf weist das Denkmal hin.

Wir leben gegenwärtig in einer Atmosphäre beispiellosen Hasses. Darüber wird im Zusammenhang mit den negativen Auswirkungen von  Internet oder Facebook öffentlich diskutiert. Menschenfeindliche Stimmungen werden dadurch manifest, dass die Toten im Mittelmeer von vielen einfach hingenommen werden. Und sie zeigen sich auch im eigenen Land:

Im letzten Jahr hatten wir in Deutschland über 2.000 Tätlichkeiten gegen Flüchtlinge und Flüchtlingswohnheime, über 1.500 antisemitische und 1.000 antimuslimische Angriffe. In diesen Tagen haben wir an die Toten in Solingen gedacht. Das alles ist erschreckend. Das hat es vor 30 Jahren noch nicht gegeben. Es ist eine Schande für Deutschland. Doch genauso schlimm ist es, dass es bei diesen Tausenden aktuellen Vorfällen kaum Solidarisierungen mit den Opfern gab.

Vor zwei Monaten wurden in der Nähe meines Büros in Darmstadt die Scheiben einer Moschee eingeworfen und die Außenwände beschmiert. Der dort wohnende Imam und seine Familie hatten Angst und wagten sich nicht mehr nach draußen. Und was geschah in der Stadt? Da passierte erstmal gar nichts. Wir haben dann zusammen mit jüdischen, christlichen und muslimischen Gemeinden einen Brief verfasst und einen Solidaritätsbesuch in der Moschee gemacht. Dazu ist dann auch der Oberbürgermeister gekommen. Zeitungen haben darüber berichtet. Dadurch wurde der muslimischen Gemeinde wieder Mut gemacht.

Diese Erfahrung war der Anstoß, dass wir mit jüdischen, christlichen und muslimischen Persönlichkeiten die Initiative „SCHULTER AN SCHULTER“ (SAS) bei der Stiftung gegen Rassismus gestartet haben: Wo immer solche Gewalttaten erfolgen, da sollen Menschen dazu angeregt werden, solidarisch mit den Opfern zu sein, Tränen abzuwischen. Schulter an Schulter wollen wir zusammenstehen. Gewalttäter sollen nicht den Eindruck haben, dass eine schweigende Mehrheit hinter ihnen steht. Verbrechen wie in der Zeit des Nationalsozialismus dürfen sich nicht wiederholen. Damals hat eine Atmosphäre des Hasses gegen Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Behinderte und Obdachlose unser Land zerstört.

Die nach Europa kommenden Flüchtlinge sind Botschafter für  Veränderungen. Sie kündigen an, dass sich in Europa Veränderungen vollziehen. Sie machen Geschichte. Und das gilt bei Flüchtlingen seit Jahrtausenden. Schon in den heiligen Schriften waren es Flüchtlinge, die zu Erneuerungen beigetragen haben: Abraham war Flüchtling und hat den Monotheismus eingeführt. Moses, der sein Volk aus Ägypten rettete, war ein Flüchtling. Jesus war ein Flüchtling, der nichts hatte, wo er sein Haupt hinlegen konnte. Und im Leben von Muhammad war die Flucht von Medina nach Mekka das prägende Ereignis.

Flüchtlinge kommen als Boten Gottes – und wir lassen sie ertrinken. Häufig kommen sie aus Ländern, in denen sich ethnische und religiöse Gruppen gegenseitig vernichten. Sie haben meist schreckliche Erfahrungen gemacht. Und sie bringen Traditionen mit, die für unser Land wegweisend sind:

  • Die Gastfreundschaft, die in Ländern des Nahen Ostens tief verankert ist und die ich vor wenigen Wochen nach einem Unfall in beispielhafter Weise in dem islamisch geprägten Land Abu Dhabi erlebt habe.
  • Die Hochschätzung der Nachbarschaft, die wir gegenwärtig auch in Deutschland bei den Einladungen zu Iftar-Feiern während des Monats Ramadan erleben können; letzte Woche war der Nachbarschaftstag, an dem Nachbarn unabhängig von ihrer Herkunft oder Religion an vielen Orten zum gemeinsamen Iftar-Essen eingeladen wurden.
  • Die starke Prägung durch Gebete, die bei den Freitagsgebeten deutlich wird, zu denen auch Nichtmuslime eingeladen sind oder
  • der starke Zusammenhalt in Familien, durch den Krisen besser gemeistert werden, der aber auch belastend sein kann.

Flüchtlinge kommen in einer Phase in unsere Gesellschaft, in der Werte wie die Ehrfurcht vor dem Leben, Liebe und Hoffnung neu zu beleben sind.

Das Denkmal will dazu beitragen, Flüchtlinge mit anderen Augen wahrzunehmen: Als von Gott geliebte Menschen, für die wir eine Verantwortung tragen. Sie sind nicht eine Belastung für Europa und unser Land. Vielmehr sind sie ein Impuls zur Erneuerung von Werten wie Solidarität, Zuwendung und Mitgefühl. Wenn das nicht verstanden wird könnte es zum Erstarken von Nationalismus und zum Ende der friedlichen europäischen Kooperation beitragen.

Das Denkmal ist ein Ort der Trauer für die Überlebenden und Familienangehörigen. An die Toten im Mittelmeer könnte jedes Jahr zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni erinnert werden. An die gestorbenen Flüchtlinge sollte zum Volkstrauertag im November erinnert werden. Dieser Tag erhält dadurch eine neue Dimension. Erinnerungen zum Volkstrauertag beziehen sich dann nicht mehr nur auf eine lang zurückliegende Geschichte. Sie schließen die in unserer Zeit Gestorbenen und weiterhin Sterbende mit ein. Die in der Flüchtlingsarbeit Engagierten könnten den Volkstrauertag in ihre Aktivitäten einbeziehen.

Die Toten im Mittelmeer sind häufig Christen und viele sind Muslime. Neben christlichen Gebeten sollten daher auch islamische Totengebete gesprochen werden, wie das heute bei der Einweihung der Gedenkstätte vorgesehen ist. Muslime gehören zum deutschen Volk. Sie gehören auch zum Volkstrauertag.

Wenn wir Tränen abwischen, dann bedeutet das eine Wertschätzung von Menschen als Ebenbild Gottes. Dann geben wir die Hoffnung weiter, die für unsere Zukunft erforderlich ist, damit wir nicht in einer Atmosphäre des Hasses untergehen.

Wer Menschen die Tränen abwischt, der handelt im Sinne Gottes.

Predigt anlässlich der Einweihung der Arster Gedenkstätte – Jürgen Micksch

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